~ Hinrich Hauschild
Der 2018 im Alter von 90 Jahren verstorbene ehemalige Diplom-Volkswirt Karlheinz Reher hat sich in seinen hohen 80ern der Mühe unterzogen, eine Chronik der 1847 gegründeten Pestalozzi-Stiftung Hamburg bis zum Jahr 2014 zu schreiben (1). Von 1937 bis 1943 lebte er als Heimkind im Pestalozzi-Heim in Hamburg Ohlstedt in der Diestelstraße und seine Erinnerungen und Schilderungen der Kriegsjahre stellen ein wichtiges Zeitdokument dar.
Die Nationalsozialisten begannen sehr früh nach der Machtergreifung ihre menschenverachtenden Vorstellungen von lebenswertem und nicht-lebenswertem Leben zu formulieren und in entsprechende Gesetze zu verankern. Bereits im Juli 1933 wurde das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” verabschiedet, demzufolge bis zum Kriegsende geschätzte 400.000 Zwangssterilisierungen vorgenommen wurden. Weitere 200.000 körperlich und geistig behinderte Menschen wurden infolge der Euthanasie-Gesetzgebung ermordet. Zwei Jahre später im September 1935 folgte das “Reichsbürgergesetz”, welches zu den “Nürnberger Rassengesetzen” gehört. Menschen, die sich des “Deutschtums” nicht würdig erwiesen, wurden als “Gemeinschaftsfremde” abgesondert und ihnen wurde aufgrund eines unterstellten biologischen Defekts eine rassische Minderwertigkeit bescheinigt. Entsprechend wurde auch in den Kinderheimen und Fürsorgeheimen unter den Kindern und Jugendlichen streng selektioniert und bei körperlichen, geistigen oder sozialen Auffälligkeiten drohte die Verlegung in ein “Jugenderziehungslager” oder “Jugendschutzlager”, die von Reichsführer Heinrich Himmler initiiert worden waren. Die Worte von Paul Werner aus dem Reichssicherheitshauptamt lassen die Zielsetzung dieser Lager in schockierender Klarheit erkennen: “Aufgabe der Lager ist es nun, die eingewiesenen Lagerzöglinge auf ihre Erziehbarkeit zu sichten, die noch erziehbar erscheinenden mit geeigneten Mitteln zu erziehen, um sie vielleicht doch noch für die Volksgemeinschaft zu gewinnen oder zurück zu gewinnen, und die unerziehbaren bis zu ihrer endgültigen Überführung in ein Konzentrationslager oder in andere Einrichtungen zu verwahren unter größtmöglicher Ausnutzung ihrer Arbeitskraft”(5). Wieviele Heimkinder und Fürsorgezöglinge in ein Konzentrationslager überführt wurden ist nicht bekannt. Durch ihre Markierung dort mit dem “schwarzen Winkel”, der sie nach außen hin als “Asoziale” kennzeichnete, bewegten sie sich in der sozialen Lager-Rangordnung auf einem der unteren Plätze.
Karlheinz Reher beschreibt in seinem Rückblick auf die Kriegszeit in der Diestelstraße keinerlei Ereignisse, die auf eine Überführung oder Verlegung von Kindern infolge der neuen Gesetzgebung schließen lassen. Sein Mitbewohner Helmuth Haack, der von 1942 bis 1950 im Pestalozzi Heim in Ohlstedt lebte, hat in seinem Buch “Pestalozzis Kosmos”(2) über einen Jungen berichtet, der als Halbjude kurz vor Kriegsende plötzlich aus dem Heim verschwunden war. Spätere Nachforschungen von Karlheinz Reher hatten keine weiteren Hinweise auf seinen weiteren Verbleib liefern können. Beide Autoren beschreiben sehr anschaulich die kriegsbedingten Veränderungen des Alltags. Unter Anleitung von Herrn Kalsow, dem Heimgärtner, wurde rasch gemeinsam damit begonnen, einen Luftschutzgraben auszuheben und der Werkraum im Keller des Haupthauses wurden mit schweren Balken zum Luftschutzkeller ausgebaut. Der Graben wurde nie benötigt und sehr schnell wieder eingeebnet. Dafür sollten die Kinder und das Personal in den kommenden Jahren viele lange und angstvolle Nächte bei Fliegeralarm im Schutzkeller verbringen. Als im Herbst 1944 Sprengbomben auf das Heimgelände abgeworfen wurden, kam es glücklicherweise nur zu Sachbeschädigungen.
Im Dezember 1943 führten die Auswirkungen des Krieges zu einer weiteren Zäsur in der Heimstruktur. Durch die komplette Zerstörung der Kinderklinik Rothenburgsort und stetig nachlassender Kapazitäten der naheliegenden Krankenhäuser waren kaum noch Betten für erkrankte Kinder in Hamburg verfügbar. Daher entschieden die verantwortlichen Stäbe unter dem herrschenden NS-Reichsstatthalter und Gauleiter Karl Kaufmann, das Haupthaus in ein Ersatz-Hilfskrankenhaus umzufunktionieren. Der Heimbetrieb erfolgte daraufhin bis zum Kriegsende unter sehr beengten Verhältnissen im Nachbargebäude, dem “Dalchow-Haus”. In den 60 Betten des Hilfskrankenhauses wurden überwiegend an Tuberkulose erkrankte Kinder versorgt. Die Erlaubnis zur gemeinsamen Nutzung von Kücheneinrichtung, Wäscherei und Baderäumen sicherte die Versorgung der Heimkinder. Gut zwei Jahre nach Kriegsende, im August 1947, konnte nach zähen Verhandlungen mit der Gesundheitsbehörde das Haupthaus wieder bezogen werden und die Anzahl der betreuten Kinder erhöhte sich rasch auf eine Zahl von 40.
Beim Personal gab es in den Nachkriegsjahren keine Veränderungen. Der Heimleiterin Elisabeth Schleuss wird ein distanziertes Verhältnis zum Nationalsozialismus nachgesagt und sie fand einen Weg, nur die allernötigsten Kompromisse mit dem Regime einzugehen, um sich und die Existenz des Heimes nicht zu gefährden. Dementsprechend stand das Heim unter kritischer Beobachtung und es kam häufig zu Kontrollen und Durchsuchungen der Gebäude und Räumlichkeiten durch die Überwachungsbehörden. Zusammen mit ihrem Personal gelang es Elisabeth Schleuss, möglicherweise politisch belastendes Material wie z.B. englische Flugblätter, die immer wieder einmal von den Kindern mitgebracht wurden, frühzeitig ausfindig zu machen und zu entfernen. Der außergewöhnliche Mut der Heimleiterin und ihre feste kritische Haltung dem NS-Regime gegenüber lässt sich an einem besonderen Ereignis ablesen. Kurz vor der Beschlagnahmung des Haupthauses 1943 zum Ersatz-Kinderkrankenhaus besuchte Gauleiter Karl Kaufmann das Heim und bei seinem Rundgang kam es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen den beiden, da es in keinem Raum des Heimes ein Bild vom Führer oder anderer NS-Größen gab. In den Augen des Gauleiters ein Affront. Die Standhaftigkeit von Elisabeth Schleuss gegenüber dem damals mächtigsten Mann in Hamburg blieb bestehen. Bis zum Kriegsende blieben die Wände des “Dalchow-Hauses” frei vom angemahnten Führer-Portrait.
Bei der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der NS-Herrschaft auf die Verwaltungsebene der Pestalozzi-Stiftung Hamburg sollte das persönliche Schicksal von Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Blitz (1876 – 4.1.1940) nicht vergessen werden. Er betrieb eine Anwaltskanzlei in der Büschstrasse (Neustadt) und wurde im Jahr 1919 Mitglied des Verwaltungsrates, es folgte eine 14-jährige Vorstandstätigkeit. Durch seine engagierte und fundierte Mitarbeit und seine große Menschlichkeit hatte er sich rasch ein großes Ansehen erworben und die Belange der Stiftung mit vorangebracht. Als Jude waren er und seine Familie nach der Machtergreifung zusehends mit Repressalien, Hetze und Verfolgung bedroht. Im März 1938 wurde er wegen angeblicher Rassenschande mit einer Klientin, die ihn offenbar mit erpresserischer Absicht angezeigt hatte, angeklagt und inhaftiert. In der anschließenden Verhandlung im Frühsommer des Jahres wurde er von dem Vorwurf vor dem Hamburger Landgericht freigesprochen. Statt aber aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, überführte ihn die Gestapo nach dem Freispruch in das KZ Fuhlsbüttel, um dort doch noch ein Geständnis zu erpressen. Nach einem halben Jahr Inhaftierung und Folter wurde er Ende 1938 entlassen und man forderte ihn auf, das Land zu verlassen. Die Haftbedingungen und die durchlebten Qualen hatten den ehemals tatkräftigen und vitalen Mann in ein körperliches und seelisches Wrack verwandelt. Er verstarb ein Jahr später in England im Alter von 63 Jahren mit gebrochenem Lebenswillen an den schweren körperlichen Folgeerkrankungen der Haft.
Im Jahr 1995 rief der Kölner Künstler Gunther Demnig die europaweite Stolperstein-Aktion ins Leben, um nachhaltig auch für die zukünftigen Generationen an die vielen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu erinnern. Einer der mittlerweile über 6000 Hamburger Stolpersteine in der Werderstraße 65 in Eimsbüttel ist Dr. Wilhelm Blitz und seiner Familie gewidmet.
Abbildungen
1) Haupteingang des Pestalozzi Heimes in der Diestelstraße
2) Heimkinder im Schützengraben
3) Dalchow Haus
4) Geburtstag von Heimleiterin Elisabeth Schleuss (2. von re.), 11. August 1942
5) Stolperstein von Dr. Wilhelm Blitz in der Werderstraße 65
Quellen
1) Reher, Karlheinz, “Im Strom der Zeit, Die Geschichte der Pestalozzi-Stiftung Hamburg 1847 – 2014”, Christians Verlag
2) Haack, H. “Pestalozzis Kosmos”, Cornelia Goethe Verlag Frankfurt a.M., 2005
3) Urbanski, Dr. S., “Hamburg-Geschichtsbuch” der Behörde für Schule und Berufsausbildung-Amt für Bildung, Projektleitung, Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. F. Kopitsch
4) Engelbracht, G. “Denn bin ich unter das Jugendamt gekommen – Bremer Jugendfürsorge und Heimerziehung von 1933-1945”, Edition Falkenberg 2018
5) Werner, P. “Die Einweisung in die polizeilichen Jugendschutzlager”, in Roland Freisler (Hrsg.), Deutsches Jugendrecht. Heft 4, Berlin 1944, S.95 – 106