Ein Zeugenbericht über das Leben im Pestalozzi-Heim an zwei Standorten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts

Dieser Zeugenbericht ist von 1907 und wurde circa 2008 aus dem Sütterlin übertragen. 

Pestalozzi-Heime in Billwärder (1847-1865) und Barmbek (1865-1906)

Ursache meiner Niederschrift ist: Mich in meine Jugendzeit mit Vergnügen zurück zu versetzen und meinen Kindern eine Erinnerung an Eltern und Großeltern zu hinterlassen.

Familienhintergrund

Mein Vater war bei Plau in Mecklenburg gebürtig und Schneider von Passion mit Namen Friedrich Küppers (Sein Vater und Brüder schreiben sich Küpers. Dieses ist wohl der schlechten Buchführung der Kirchenobrigkeit in Mecklenburg zuzuschreiben) Sein Vater betrieb in M. die Weberei, was seine beiden Brüder Heinrich und Diedrich für eine Profession ergriffen haben, weiß ich nicht, nur dass alle drei nach Amerika, der traurigen Zustände in M. zufolge, auswanderten, woselbst mein Großvater bald verstarb. Sie wohnten im Staate Ohio in Cleveland. Anfänglich wurde noch ein Briefwechsel unterhalten (ein Brief von Hier kostete Ende der 1860er Jahre 26 Schilling Hamburger Curant (1,95 Mark nach jetzigem Geld).
Der Großvater verstarb 1881. Eine Verwandte, die mit einem Conditor verheiratet ist und sich Frau Peter Meier, geb. Kristiane Küppers nennt, wohnt hier in Barmbek.

Meine Mutter ist Agathe Henriette Küppers, geb. Hausmann aus Hamburg am 14. Juni 1829 geboren, ihr Vater betrieb eine Gärtnerei beim jetzigen Strohhause. Nach seinem Tode zog meine Großmutter geb. Müller nach dem Barkhof auf einen Saal und ernährte sich und die Kinder durch Reinmachen und Einhüten. Meine Mutter hatte einen Bruder und eine Schwester, welche beide älter waren. Die Schwester Johanna verheiratete sich mit einem Bürger Cristian Clausen aus Bergedorf bei Hamburg, derselbe starb 1871.

Sie wohnten in der Spitaler Str. im Uhrmacherhof, dem großen Schlachter Beiser gegenüber. Dieser Ehe entstammen drei blinde Mädchen, wovon das eine sehr jung starb. Die beiden anderen Emilie und Adele wurden in der Blindenanstalt in der Minnenstr. (?) erzogen und verblieben dort lange Zeit, da sie zu jeder Beschäftigung unbrauchbar waren und starben in einem Alter über 60 Jahre. Außerdem gab es noch zwei Söhne und eine Tochter Auguste. Die Söhne Johannes und Albert, letzterer erschoß sich im Alter von 21 Jahren am Markttage hinter der Hammer Kirche infolge eines Herzleidens 1877. Beim Hamburger Brand 1842 siedelten Onkel und Tante mit Kindern nach Bergedorf über, wohin mit der erst neu erbauten Berliner Eisenbahn unentgeltlich befördert wurden und betrieben dort die Cigarrenmacherei. Nach einigen Jahren kehrten sie aber wieder nach Hamburg zurück. Meine Tante war am 20. Juli 1816 geboren und starb am 5. Dez. 1907 im Appolonia-Maria-Stift. Der Bruder meiner Mutter Johann, Heinrich Frank, welcher sehr begabt war, kam zu einem Grafen als Diener. Der Graf, welcher von Dänemark eine Pension bezog, wohnte angeblich in Altona, in Wirklichkeit aber in Hamburg-Dammthorwall. Mein Onkel war ganz in der Gewalt dieses sauberen Herrn und wurde von ihm missbraucht. Der junge Mann schämte sich, sich seiner Mutter anzuvertrauen und bekam ein unheilbares Leiden, welches ihn in den Tod trieb. Er wurde tot aus einem Fleet gezogen, er war erst 17 Jahre alt. Meine Mutter lebte mit ihrer Mutter und mit einer Tante Barmel noch mehrere Jahre im Barkhof zusammen, bis erstere starben und meine Mutter sich verheiratete.

Meinen Eltern wurde das Heiraten recht schwer gemacht, da beide mittellos waren. Mein Vater musste erst Bürger werden und dann Meister. Danach konnten sie nach Erledigung für ihre Verhältnisse der großen Kosten heiraten. Sie hatten aber noch keinen Verdienst. Ich hatte einen Bruder, der sehr früh verstorben ist und ich habe ihn nicht gekannt. Ich bin am 31. Mai 1857 zu Hamburg, wie mir gesagt worden ist, am ersten Pfingstfeiertag unter starken Gewitter geboren. Es wurde mir bei der Taufe in der gr0ßen Michaeliskirche die Namen Eugen, Wilhelm. Michael gegeben. Meine Eltern lebten in geschiedenem Verhältnis. Mein Vater ertrank 1875 bei der Besichtigung eines Auswanderer-Dampfer in der Elbe.

Meine Mutter ging als Weißnäherin in Herrschaftshäuser, um sich einen Lebensunterhalt zu erwerben. Diese Beschäftigung sagte ihr noch von früher zu, da sie als Weißnäherin bei Senator Merk in Hamm gewesen war. Eine Köchin mit Namen Cristine, später verheiratete Köhler war und blieb bis an ihr Ende eine Freundin meiner Mutter. Ich erinnere noch einige Namen von Herrschaften, wo sie wöchentlich einen Tag, oder alle 14 Tage einen Tag in Arbeit war. […]. Sie erhielt den Tag Beköstigung und Hamburger Pf. 45, später Pf.60. Daß ich ihr dabei sehr hinderlich war, lässt sich denken. Sie gab mich daher in Kost, wie man es nannte, zuerst bei Ganter, einer Familie, bei der mein Vater als junger Mann logiert hatte. Der Mann war Beamter bei der Dänischen Post in der Großen Bleichen, sie lebten in sehr kümmerlichen Verhältnissen und waren mit 5 Mädchen gesegnet: Auguste, Wilhelmine, Luise, Emilie und Doris. Ich habe die alten Leute sehr lieb gehabt und bin mit Emilie bis zu ihrem frühen Tode befreundet gewesen, auch nach ihrer Heirat mit August Kunzelmann, der mir ein lieber Freund war und ihre Tochter Dora ist mir ans Herz gewachsen. Zuerst, als ich zu Onkel Barter kam, wohnten sie in einem Hof in der Neustädter Neustraße, jetzt Neustädter Straße, dann verzogen sie nach dem Specksplatz auf Siemerplatz auf eine Etage. Auf demselben Flur war eine Drechslerwerstelle, wo viele Gesellen arbeiteten. Der Besitzer hieß Schumann. (Auf seine alten Tage war er bis zu seinem Tode Hilfsarbeiter am Stadttheater.) Auch ein Schuster namens Sontheimer, dessen Frau zum Kochen ausging und kinderlos war, wohnte nebenan. Fast jeden Morgen, wenn er allein frühstücken wollte, klopfte er bei uns an, ich musste zu ihm rumkommen und mit ihm trockenes Schwarzbrot mit geräuchertem Speck essen und Braunbier dazu trinken. (S. ist später bis zu seinem Ende Aufseher am Wasserreservoir an der Sternschanze gewesen.) Auf dem Hofe war eine Wagen-Lackiererei, eine Schmiede und eine Stellmacherei, ein richtiger Tummelplatz für uns Kinder. In einem Verschlage waren die Aborte für die vielen Gesellen und ließ ich mich mal verleiten, das Papier, welches dort lag, anzuzünden; wenn nicht Gesellen es bemerkt hätten und das Feuer ausgegossen, so wäre wohl der Schuppen abgebrannt. Mir brachte dieser Streich von Onkel Barter eine tüchtige Tracht Prügel ein. Oft musste ich auch für die Leute was zum Frühstück holen, z.B. 3 gekochte Eier, im Sommer für Sch. 85.-, dann bekam ich wohl auch ein Ei ab oder einen Dreiling. Im Breitengang ich in eine kleine Kinderschule, dieselbe wurde von einem Fräulein Ramm und ihrer Mutter abgehalten, gelernt habe ich aber nicht viel dort. Häufig nahmen mich gegen Abend Emilie und Doris auch mit zur Dänischen Post, wo wir dann die Eisenbahnzeitung falzten, die mit der Post fort sollte. Dieses war für Onkel Barter ein kleiner Nebenverdienst.
Noch viele Streiche könnte ich erzählen.

In Billwerder
Im Frühjahr 1865 kam ich nach dem Pestalozzistift in Billwerder an der Bille. Daselbst waren 32 Knaben und 18 Mädchen. Es war herrlich dort. Vom Deich zur Bille kam erst unser Spielplatz mit den Turngeräten und dem mit Stroh gedeckten Lufthäuschen und für jeden Knaben ein kleines Stück Gartenland, etwa 2 m lang und 1 m breit, auf dem sich jeder Blumen nach Herzenslust pflanzen und säen konnte. Die Kleinen lernten es von den großen Knaben. Dann kam dahinter der Gemüsegarten und ganz zur Bille die Badeanstalt. Hinter dem Deich, wo die Gebäude standen, befand sich neben denselben der Spielplatz der Mädchen, dahinter der große Gemüsegarten und den furchtbar vielen Obstbäumen und Obststräuchern. Daran schlossen sich die Kornfelder und Weiden für unsere 2 Kühe, bis zur Landscheide nahe der Berliner Eisenbahn. Die Felder wurden von einem Bauern bearbeitet und die Gemüsegärten von den Jungen und dem Knecht Nikolaus. Die Mädchen machten Wäsche und Handarbeit unter Aufsicht der Mamsell Frl. Lauter. Zwei Dienstmädchen, Marie und Pauline, den Direktor Grell und seine Frau, die wir der Kürze wegen Rektor und Frau Rektorin nannten, waren da mit dem Lehrer Klauder. Drei Schweine, viele Hühner, Enten, Tauben und einige Gänse machten den Viehbestand aus. Im Sommer standen wir um 6,30 und im Winter um 7,00 Uhr auf. Im Sommer war vormittags Schule und nachmittags arbeitete jeder Junge im Garten nach seinen Kräften und Alter. Die Mädchen strickten und nähten. Im Winter hatten die Jungen nachmittags auch Schule, außerdem mussten sie Kartoffeln und Obst schälen. Das Obst wurde zum trocknen zum Bäcker gebracht, dabei kam es vor, weil wir nicht naschen durften, dass Einer oder der Andere die Apfel- oder Birnenschale aß. Er hauchte dann seinen Nebenmann an, ob etwas zu riechen sei. Im Sommer trugen wir Drilligzeug und im Winter Blau-Wollzeug und Holzpantoffeln, da wir nur zum ausgehen ein Paar Schuhe hatten. Bei der Arbeit hatten wir Leinenkittel und – Hosen übergezogen. Eine Stunde nach dem Aufstehen gab es Suppe wie folgt: Montag und Donnerstag Hafergrütze in Milch, Dienstag und Freitag Buchweizengrütze in Milch und Mittwoch und Sonnabend Reis in Milch gekocht.
Dreimal in der Woche gab es Fleisch: Sonntag Rindfleischsuppe mit Reis, Donnerstag Rindfleischsuppe mit Graupen, Dienstag Speck mit selbst eingekochtem Sauerkohl oder dergleichen. Wenn erst geschlachtet war, gab es auch Dienstag Grützwurst. Sonntagmorgen gab es anstatt Suppe Sirup auf Schwarzbrot und Milch mit Wasser und kein Frühstück weiter. An Wochentagen gab es 8,30 Uhr eine Schnitte trockenes Schwarzbrot, und jeden Tag zur Vesper ebenso. Nur die Bettnässer bekamen zur Vesper ihre Milch und zum Abendbrot keine. Die anderen Kinder bekamen die Milch des abends zum trockenen Schwarzbrot. Sonntagabends gab es Schmalz auf Schwarzbrot und mit diesem Schwarzbrot wurde von uns Kindern sehr gespart, wenn einer eine ganze oder halbe Schnitte Brot erübrigen konnte, schrieb er mit dem Finger seine Bettnummer in das Schmalz und gab es dann ab. Er erhielt es am anderen Morgen wieder zu seinem trockenen Frühstück. Nun wurde das Schmalzbrot mit dem trockenen Brot zusammengeklappt, damit auf beiden Seiten etwas Schmalz war.
Alle 4 Wochen war am Sonntag Besuchstag und da brachten die Angehörigen Kuchen, Apfelsinen und dergleichen mit, welches aber nicht aufgegessen werden durfte, sondern beim Direktor abgegeben werden musste. Er kam am Nahmittag mit einem Korb, solange der Vorrat reichte, und verteilte sie.

Die Räumlichkeiten waren sehr mangelhaft, ein Waschhaus im Stall und ein Wohngebäude mit der allgemeinen Wohnstube, in der auch der Unterricht abgehalten wurde. Knaben und Mädchen waren in zwei Klasse eingeteilt, die der Lehrer und der Direktor zur gleichen Zeit unterrichteten. Die Mittagsmahlzeiten wurden an langen Tischen auf der ungeheizten Diele eingenommen. Da nicht so viele Bänke vorhanden waren, mussten die kleinen Kinder bei der Mahlzeit stehen. Bestrafungen wurden mit einem Tadel von den Angestellten in ein Buch, das sie bei sich führten, eingetragen. Am Sonntag wurden sie vom Direktor zusammengezählt. Wer dann von 7-9 Jahren 7 Tadel, von 9-11 Jahren 5 Tadel, von 11-15 Jahren 3 Tadel hatte, musste Sonntagnachmittag arbeiten, Kartoffeln schälen und Gemüse putzen für den nächsten Tag. Wer nun von Michaelis bis Neujahr dreimal Sonntags gearbeitet hatte, kam am letzten Tag nicht zu Besuch zu seinen Angehörigen. Wer über die Maße hinaus gearbeitet hatte, dem wurde am Sonntagvormittag die Hoden stramm gezogen.

Wenn wir zu unseren Angehörigen gehen konnten, gingen wir bis zu “Letzten Heller”, fuhren für 4 Schilling und 30 Pfennig nach der Petrikirche und wurden gewöhnlich von unseren Verwandten erwartet. Auf demselben Weg kamen wir abends 8 Uhr schwer beladen mit Schönem wieder ins Pestalozziheim.

Im Sommer mussten wir um 9 Uhr und im Winter um 8,30 zu Bett. Häufig waren wir aber noch nicht müde, und da eine kleine Nachtlampe brannte, machten wir noch Schattentheater, bis der Lärm so groß wurde, dass der Lehrer kam und uns alle in den Betten fand (Des Lehrers Tür quiekte und wurde gehört.) Jeden Morgen mussten wir uns halb ausziehen und mit kaltem Wasser waschen. Sonnabends musste wir uns in dem Waschhaus mit kaltem Wasser seifen, nur die Kleinsten wurden von den Dienstmädchen geseift, ebenso wurden die Füße in kaltem Wasser gewaschen. Nun hatte ich Frost in den Füßen und hatte im Bett die Wollstrümpfe anbehalten.

Des Sonntags hatten wir in der Schulstube Andacht. Nur die Konfirmanden gingen zur Kirche. (Die Knaben wurden mit 15 Jahren und die Mädchen mit 16 Jahren konfirmiert.) Nachmittags spielten wir auf dem Spielplatz. Da dieser durch einen Graben an ein kleines Gehölz, das einem Engländer gehörte, anstieß, wurden die Kleinen hinein geschickt, um trockenes Laub zu sammeln. Die Großen stopften es in Kalkstummel, die sie irgendwo gefunden hatten,. Mit einem Brennglas wurde die Pfeife in Brand gesetzt. Ein paar Häuser vom Pestalozzistift entfernt wohnte ein Schneider Werner, der bei uns zweimal wöchentlich die zerrissenen Hosen und Jacken der Jungen flickte. Die Jungen, die Ostern konfirmiert wurden, mussten helfen oder vielmehr die Flickerei bei ihm erlernen. Er hatte sieben Kinder, die zuweilen zu uns auf den Spielplatz kamen. Nun war es für die großen Jungen ein Gaudium: Wenn sie eines der Kinder schlugen, brüllten alle sieben. Einmal jährlich kamen wir nach dem zoologischen Garten oder hatten eine Ausfahrt. Wenn im Herbst der Steinbeker Markt war, durften wir ja auch nicht fehlen, denn wir brachten Geld unter die Leute. Wir erhielten von wohlwollender Hand dazu jeder 1 Schilling und acht Pfennig.

In Barmbek
Nach meinem zweijährigen Aufenthalt sollten wir das aufs Beste eingerichtete neue Heim in Barmbek beziehen. Schon vom Frühjahr ab fuhren die ältesten Jungen mit dem Knecht nach dort, um den Acker mit Kartoffeln und Korn zu bestellen unter Leitung der zwei Vorstandsmitglieder Andreas Köhn und Leonhard Sietas. Als der Herbst kam und die Kartoffeln aufgenommen wurden, hörten wir mit Staunen die Wunderdinge, die die Große uns abends bei ihrer Heimkehr erzählten. Es gab in Barmbek Brombeeren, Holzäpfel, Hagebutten, Schlehen, Haselnüsse und andere Sachen, gerade wie im Schlaraffenland. Es waren Sachen, die wir in unserem Marschdorf nicht mal dem Namen nach kannten. Endlich kam im November die Übersiedlung. Wochen vorher war schon gepackt worden, Unterricht wurde nicht gehalten, sehr viel Obst war schon getrocknet für den ersten Winter in Barmbek. Auch frisches Obst war hingeschickt, da wir dort kein Obst hatten. Wir Kleinen hatten lauter Feiertage, da wir noch nicht helfen konnten. Wir waren uns selbst überlassen und schlugen jeden Tag auf unserem Spielplatz die Schlacht bei Leipzig.

Endlich waren die letzten Sachen fortgefahren, wir versammelten uns im Haus und sangen: “So leb` denn wohl du altes Haus” Dann marschierten wir zu dem Land von Kuhlmann, wo wir auf mehrere Wagen stiegen, um in das “Wunderland” zu fahren. Es war ein herrlicher Herbstnachmittag, jedoch kamen wir im Dunklen an. Vesperbrot hatten wir unterwegs gegessen und Milch hatten wir noch bei dem Bauern bekommen.

Nun hieß es für alle: Arbeiten. Zuerst die Schlafsäle in Ordnung bringen. Ich war sehr klein, und musste daher mit einer Stearin-Kerze mitten in der Halle stehen, damit die anderen Jungen, die die Matratzen schleppten, sehen konnten. Es dauerte nur nicht lange, da wurde mir der Arm lahm, ich hielt die Kerze schief und das Stearin lief mir über die Hand und ich warf das Licht fort. Dieses trug mir von Frl. Lauter, die sowieso eine lose Hand hatte, eine Maulschelle ein mit dem Bemerken, ich sei zu gar nichts nütze.

Hier in den größeren Verhältnissen wurden die Anordnungen in der Häuslichkeit ganz anders. Zu jeder Mahlzeit, sowie zur Schule, zur Arbeit, zur Freistunde usw. wurde eine große Glocke geläutet, die außerhalb des Geländes angebracht war. Von nun an wurden die Morgenarbeiten für einen Monat eingeteilt: Zwei große Jungen mussten dem Knecht helfen, die Kühe melken und das Pferd striegeln und putzen. (Wir hatten eine Kuh und ein Pferd mehr bekommen.) Vier Jungen mussten eine Lage Korn mit dem Dreschflegel ausdreschen, zwei Jungen mussten dreimal täglich das Wasser aus dem Keller oben ins Haus in die Wasserbehälter pumpen, zwei Mann mussten für die Angestellten und die Jungen Schuhe und Stiefel putzen. Wir trugen keine Holzpantinen mehr.

Jeden Morgen musste einer buttern, einer mittags Griffel spitzen, zwei jeden Morgen die Nachteimer forttragen. Der Rest musste die Halle und Treppe reinigen. Außerdem mussten auf längere Zeit zwei Mann Haare schneiden. Einer Botengänge, einer Hühner und Enten versorgen, einer jeden Donnerstag mit dem Knecht per Pferd und Wagen vom Werk und Armenhaus Schwarzbrot holen, zwei jeden Sonntag vom Werk und Armenhaus einen Waschkorb voll Weißbrot holen. Wir bekamen jetzt jeden Sonntagnachmittag zum Vesper Weißbrot. Wir hatten es recht gern, da wir vom Bäcker ein Brot, das ein bisschen braun geraten war, erhielten und uns in der Bäckerei ordentlich satt in Braunbier trink en konnten. Einmal, als ich zum holen dran war, lag recht viel Schnee und das Gehen war in unseren Schuhen recht mühsam.

Unser Korb hatte unten Holzleisten und auf dem Rückweg haben wir den Korb als Schlitten gezogen. Es war aber Schnee in den Korb gedrungen und hatte das Brot weich gemacht. Am Nachmittag, wie sich dies herausstellte, wurden wir ins Verhör genommen. Wir dachten, wir müssten das nasse Brot allein aufessen, aber wir bekamen statt dessen derbe Schmiere.
Vier Wochen nach unserem Einzug feierten wir Einweihung und erhielten Punsch und Kuchen. Es wurde auch ein Musikant bestellt, er wohnte in der Bartholomäusstraße und betrieb Glaserei. Er spielte eine weiche Flöte und am Arm hatte er einen Schläger geschnallt und schlug damit auf eine Trommel, die über seinem Rücken hing. Mit den Füßen trat er ein Glockenspiel. Nun konnte das tanzen losgehen. Ich tanzte immer mit Anna Kunkel, meiner Flamme, wir amüsierten uns prachtvoll. Aber ich glaube, der Vorstand, der anwesend war, hat sich noch besser unterhalten, denn sie kugelten sich vor lachen.

Jetzt bekamen wir auch einen Gärtner und es wurden Obstbäume und Obststräucher angepflanzt. Das ganze Land wurde drainiert und rigolt. Nun kam Weihnachten, in die Halle wurde ein großer Tannenbaum gestellt und geschmückt. Lange Esstische wurden in die Halle gestellt und jeder hatte einen Platz mit Tellern voll Sachen und der Sparbüchse, worauf sein Name war. Und jeder durfte 3 Wünsche sagen, die alle notiert wurden. Am 2. Weihnachtstag war Bescherung. Wir mussten in die zweite Etage in die Krankenstuben, die Knaben auf einer Seite, die Mädchen auf der Anderen. Wir sahen zum Fenster hinaus und stritten uns, wem wohl vom Vorstand die Wagen gehörten, die hinter die Scheune fuhren. Endlich durften wir kommen und sangen die Treppe hinunter: “Dies ist der Tag, den Gott gemacht ” und versammelten uns vor der Kanzel, an der das Bild von Pestalozzi angebracht war. Herr Pastor Dettmer hielt die Weihnachtsrede und am Schluß entließ er uns mit den Worten: “Nun gehet hin und nehmt die Geschenke, die euch die Liebe gespendet”. Worauf wir jeder an seinem Platz gingen. Die Vorsteher gingen von einem Kind zum anderen und sahen sich die vergnügten Gesichter an, steckten auch etwas in unsere Spartöpfe und ließen sich die Konfirmanden vorführen. Auch einige frühere Zöglinge waren zur Feier erschienen, das waren in unseren Augen die reine Wundertiere. Dann kam das neue Jahr, wo die. Welche gute Führung hatten, ihre Angehörigen besuchen durften. Meine Mutter behauptete, sie eilten so sehr, dass die Beine noch in Barmbek und der Kopf schon in St. Georg war. Auch ich gehörte an einem Neujahrstag zu den Bestraften, der nicht zu seiner lieben Mutter durfte. Ich hatte aber die Erlaubnis erhalten, dass ich ihr ein paar Zeilen schreiben durfte.

Der Winter wurde ausgefüllt mit Hafer dreschen, Düngen und Jauche fahren auf zwei niedrigen Karren, wozu wir 4 Jungen waren, und einer die Tonnen voll Jauche pumpte. Andere gingen durch den Kuhstall in die Scheune und holten von den frisch gekochten Schweinekartoffeln, es durfte aber niemand sehen.

In den Freistunden bekamen wir Bücher aus der Bibliothek oder Spielsachen aus dem großen Spielschrank. Es kam auch vor, dass Kinder in der ersten Zeit ihres Dortseins wieder fort liefen. Es wurden ihnen 1 oder 2 große Jungen nachgeschickt, oder die Angehörigen brachten sie am anderen Tag wieder. In der ganzen Zeit, die ich dort war, ist ein Kind gestorben.
Vom Frühjahr an mussten wir dem Gärtner im Feld und Garten helfen, z.B. war die Kartoffelernte vorüber, wurde der ganze Acker noch durchgeharkt und nach liegen gebliebenen Kartoffeln abgesucht. Am letzten Tag des Hackens durften wir die Kartoffeln für uns behalten und gegen Abend mit den Mädchen die Kartoffeln im Kartoffelkrautfeuer schmoren. Der Gärtner wunderte sich, dass wir am letzten Tag viel mehr Kartoffeln fanden als an den anderen Tagen; er kam aber dahinter, dass wir während der Ernte hinter seinem Rücken ein Loch gruben und einige Körbe voll hinein schütteten. Der gute Mann hatte uns nicht zur Anzeige gebracht. Auf unserem Spielplatz in Barmbek hatten die größeren Jungen ein jeder ein Stück Gartenland, welches er selbst mit Blumen bepflanzte; gewöhnlich taten sich zwei oder drei zusammen, um mehr verschiedene Blumen zu haben. Wir schnitten an Besuchstagen für unsere Angehörigen davon ab. Den Dünger für unsere Beete hatten wir mit Schubkarren von der Straße geholt aus den Reddern.

So vergingen die Jahre, die Konfirmanden wurden entlassen und kleine 6- und 7-jährige Kinder wieder aufgenommen. Im Winter 1870 sahen wir an mehreren Abenden sehr großartiges Nordlicht, es wurde uns vom Knecht gesagt, es hätte Krankheit oder Krieg zufolge: Und richtig, im Sommer 1870 brach der Krieg mit Frankreich aus. Der Gärtner las uns aus der ” Reform” die Sieges-Nachrichten vor. Der Winter von 1870/1871 war recht streng. Die größeren Knaben gingen mit dem Gärtner am Neujahrstag auf die Alster zum Schlittschuhlaufen. Bei uns in Barmbek hatte wir Minus 20 Grad. Mir erfroren auf dem Eise an jeder Hand zwei Finger. Da meine beiden Hände verbunden waren, konnte ich den ganzen Winter den Unterricht nur wenig mitmachen. Ostern 1872 wurde ich konfirmiert und wollte Gärtner werden. Die Konfirmandenstunden wurden zweimal die Woche in St, Georg bei Pastor Dettmer sen. abgehalten. Es war ein Vergnügen für uns, mal mit mehreren Jungen ohne Aufsicht fortzukommen: außerdem hatten wir von den Dienstmädchen, von denen wir jeder eine zur Braut hatten, in unseren Kleiderkoffer ein Butterbrot und ein Geldstück liegen. Unterwegs wurde dafür Grützwurst und Leberwurst gekauft und geteilt. Wenn es gefroren hatte, wurde bei der Sechslingspforte Eis geschlagen und einige Wagemutige sprangen von Scholle zu Scholle. Andere legten ein Stück Eis auf das Ofenrohr der Schiffsküche, die dann voll Rauch wurde und das Feuer löschte. Die Schiffer kamen hinter uns her, erwischten aber keinen von uns. An der Alster blinkten uns die Knöpfe der Glockenzüge so verführerisch an, dass wir beschlossen, dieselben mal alle in Bewegung zu setzen. Auch die Herrschaftskutscher in ihren großen Pelzkragen entgingen unseren Augen nicht und jeder von uns nahm einen Schneeball, und mit den Worten ” Alles was in Hamburg ist, muß gestempelt sein” flogen sechs bis acht Bälle auf die Kutscher und Pferde nieder.
Den Dom, den wir nur vom erzählen kannten, wollten wir auch einen Besuch abstatten. So wurde beschlossen, nach dem Konfirmandenunterricht nach dem Gänsemarkt zu laufen, aber da es Mittag war, waren wir sehr enttäuscht, die Buden geschlossen vorzufinden. Nun mußte die vertrödelte Zeit wieder eingeholt werden und wir kamen schweißgebadet im Stift an, zogen uns schnell um und keiner merkte etwas.

Gleich nach Ostern war die feierliche Entlassung und wir erhielten jeder aus unserem Spartopf die Schillinge. Für mich waren es 12 Schillinge. Der Knecht lud unsere Kleiderkisten und uns auf den Wagen und brachte jeden zu seinem Meister in die Lehre. Beim Abschied gab mir unser Lehrer Adam Holzmann sein Bild und einen klugen Rat. Ich wurde am Klostertor-Bahnhof als Erster abgeladen, dann fuhr ich nach Uetersen zu Herrn Berber, Handelsgärtner, wo ich in die Lehre kam. Der Knecht löste eine Karte und ich gab ihm, wie es bei uns üblich war, 8 Schilling Trinkgeld und behielt also noch in meinem Vermögen 4 Schillinge. Meine erste Eisenbahnfahrt, ich kam glücklich in Tornesch an und stieg dort in den haltenden Omnibus, der mich zu meinem Reiseziel bringen sollte. Der Fahrpreis betrug 4 Schilling, also war ich ganz abgebrannt, als ich in meiner neuen Heimat ankam. Herr B. gab mir aber nachträglich die 4 Schilling wieder. Ich hatte mir ein recht nettes kleines Haus vorgestellt und erstaunte, als der Wagen hielt und ich ein sehr altes Haus mit großem Dach und Klapptür sah. Es kam ein kleiner freundlicher Mann mir entgegen und ich musste gleich, da Mistbeete begossen wurden, die Fenster wieder schließen. Es war außer dem Hausherrn, dessen Frau und noch eine 13-jährige Tochter Louise da und noch ein 2-jähriger Lehrling Gustav Laumann da, der mit mir im Pestalozzistift gewesen war. Am nächsten Sonntag kam meine liebe Mutter, um den Lehrkontrakt, der auf 4 Jahr lautete, zu unterschreiben. Sie fuhr am Abend recht beruhigt nach Hause, da ihr Einziger gut aufgehoben war. Hinter dem Wohnhaus, das an der Straße lag, waren die Gewächshäuser und die Mistbeete sowie ein ziemlich größer Garten. Außerdem hatte Herr B. auch noch am Damm Gemüseland.

Aus dem Anstaltsleben herausgerissen, lässt es sich denken, dass ich alles mit großen Augen ansah. Eine Beruhigung für mich war, dass auf der anderen Seite der Straße ein Spritzenhaus war, vor dem die ganze Nacht eine Straßenlaterne brannte. Ich hatte nämlich Furcht vor Feuer bekommen, da an einem Sommer-Nachmittag vor uns Jungen der Blitz im Pestalozzistift in die Scheune fuhr, aber nicht zündete. Viel Vergnügen machte es mir, wie ich abends zum ersten Mal den Nachtwächter rufen hörte:” De Klock hett tein slon, tein is de Klock”
Zu Pfingsten bekamen Gustav und ich von unserem Lehrherrn jeder 6 Schilling und wir konnten ein paar Stunden fort gehen. Ich musste aber noch für meinen Herrn ½ Dutzend Zigarren holen. Ich mochte mir das Geld nicht von ihm fordern und so ist er mir bis heute die 3 Schilling schuldig. Gustav und ich gingen nach dem Tivoli, einem Vergnügungsgarten, in dem die ganze Stadt versammelt war. Ich machte mich den anderen Lehrlingen bekannt und ich musste zum ersten Mal Zigarre rauchen. Abends, kurz nach sechs Uhr, läutete die Sturmglocke. Alles staunte und schließlich hieß es: Das Moor brennt. Im Nu war der Konzertgarten leer, als wir nach Hause kamen, musste ich mich schnell umziehen und mit Noteimer, Spaten und Butterbrot versehen, zog ich zum Moor. Unterwegs schloss ich mich anderen an. An Ort und Stelle sagte mir der Spritzenmeister, da ich der Kleinste war, ich solle den Kalfaktorposten übernehmen. Ich musste aus der Gastwirtschaft Getränke für die arbeitenden Mannschaften holen. Es wurde ein breiter Graben ausgehoben und so das Feuer am weiteren Fortschreiten verhindert. Nachts um 12 Uhr wurde ich von Gustav abgelöst, der aber nicht meinen Posten bekam, sondern mitarbeiten musste.

Ein jeder von uns Jungen bekam im Winter einen Urlaub von 8 Tagen, zu Weihnachten und Neujahr 1 Tag. Diesen Urlaub verbrachten wir in Hamburg bei meiner Mutter. Ich war jetzt Lehrling bei meinem Lehrherrn und dachte mit Dankbarkeit an die Zeit im Pestalozzi Stift zurück.